Mit den Desinfektionsanstalten kam die Hygiene in die Stadt
Ein alter Schriftzug am Haus 39 in der Ohlauer Straße in
Berlin-Kreuzberg erinnert an eine Zeit zum Ende des 19. Jahrhunderts,
als es mit der Hygiene in der Stadt noch nicht zum Besten bestellt war.
Die Menschen erkrankten an Typhus, Cholera, Pocken oder Diphtherie. Der
Wiener Arzt Ignaz Semmelweis wies erstmals 1840 auf die Bedeutung der
Hygiene hin und auch in Deutschland wurde das Bewusstsein für Sauberkeit
von Max von Pettenkofer vertieft. So entstanden zu Ende des 19.
Jahrhunderts die ersten Desinfektionsanstalten.
Die Anstalt in der Ohlauer Straße ist Deutschlands älteste
Desinfektionsanstalt. Man begann erst mit der Desinfektion von Kleidern,
Matratzen und Bettwäsche von Kranken, dann
mit
dem medizinischen Besteck, später wurde (wenn notwendig) auch der
gesamte Hausrat mit heißer Dampfluft behandelt, um Keime abzutöten und
Krankheiten einzudämmen. Die Anlage wurde fortwährend baulich verändert
und erweitert. 1925 richtete man eine Gaskammer zur
Ungeziefervernichtung ein. Leider gab es für die Arbeiter gravierende
Nebenwirkungen. Sie litten unter den giftigen Dämpfen und unter einem
Chlor-Kalk-Gemisch. Immerhin waren 1908 113 Desinfektoren in der
Anstalt, die sich bis zur Reichenberger Straße ausgedehnt hatte,
beschäftigt. Im Ersten Weltkrieg reduzierte sich das Personal um etwa
die Hälfte. Die verbliebenen Arbeitskräfte hatten viel zu tun.
Mit dem Krieg kamen die Pocken, die Ruhr, die Krätze und eine schwere
Grippewelle, die 1918 dazu führte, dass über 300 Berliner Schulen
schließen mussten. Nach dem Krieg wuchs die Armut und somit auch wieder
die Gefahr von
Epidemien.
Zwischen 1923 und 1927 stieg die Zahl der Desinfektionen sprunghaft an.
29000 Todes- bzw. Krankheitsfälle wurden in der Stadt registriert und
über 39000 Desinfektionen durchgeführt. Nicht verschweigen sollte man
aber auch, dass in der damaligen Zeit heftig über Erfolg und
Notwendigkeit einer Desinfektion diskutiert wurde. Letztendlich blieb
die Bedeutung der Desinfektionsanstalt für die Volksgesundheit
unbestritten.
Den 2. Weltkrieg überstand das Haus unbeschadet und stand noch einmal im Mittelpunkt, als sich im Sommer 1945 Ruhr und
Typhus in den zerstörten Stadtteilen ausbreitete. Kriegsheimkehrer und
Vertriebene importierten über dreißig registrierte ansteckende
Krankheiten. Ende der vierziger Jahre kehrte langsam Ruhe ein. Lediglich
1961, als die DDR eine Desinfizierung der Geschenksendungen in die
Demokratische Republik verlangte, hatten die Männer in Kreuzberg einige
Hände voll zu tun. 1987, hundert Jahre nach der Einweihung der ersten
Berliner Desinfektionsanstalt, wurde die Anlage in der Reichenberger
Straße/Ohlauer Straße aufgegeben. Heute lernen und spielen hier Kinder.
Von der ursprünglichen Bebauung blieben wesentliche Teile erhalten.
Geformte Ornamentfriese und zinnenartige Dachabschlüsse beleben das
Fassadenbild. Auch der Schornstein der Dampfanlage blieb erhalten und
mahnt wie ein überdimensionaler Zeigefinger Sauberkeit und Ordnung an.
Text und Fotos: Klaus Tolkmitt