Familiengeschichte wird Touristenattraktion
Am ehemaligen Grenzstreifen zwischen Berlin-Mitte und Kreuzberg steht
am Bethaniendamm ein Baumhaus, das schon internationale Beachtung
gefunden hat. Es ist eigentlich nicht besonders schön oder spektakulär,
hat aber eine 40jährige Geschichte, die so typisch für Berlin ist.
Das kleine Eckgrundstück (eine ehemalige Verkehrsinsel) an der Mauer
führte eher ein Elendsdasein. Die Mauer verlief hier ein wenig versetzt
und so gehörte der Grund und Boden zu Ost-Berlin, war aber nur von der
Westseite zugänglich. Das rund 350 Quadratmeter große Grundstück drohte
zu vermüllen, weil sich niemand zuständig fühlte. Osman Kalin, der 1963
mit seiner Familie von der mittelanatolischen Stadt Yozgat nach
Deutschland immigrierte, machte sich diesen Zustand zu eigen und begann
das Stück Land zu bewirtschaften. Er machte den Boden urbar, baute
Gemüse an und baute aus Sperrmüll und Baumaterialien sein „Baumhaus“.
Nachdem die Mauer gefallen war, fühlte sich erstmal keiner für den
„Grenzstreifen“ zuständig und so verbrachte die Familie Kalin weiterhin
ihre Freizeit in ihrem Garten auf der Verkehrsinsel. Allerdings änderte
sich schlagartig die Ruhe in der Straße, nachdem das „Baumhaus“ von der
Mauer durch die Presse ging und international bekanntgeworden war.
Berliner und Touristen pilgerten zum ehemaligen Grenzstreifen, um diese
besondere Attraktion in Kreuzberg zu
bestaunen.
Inzwischen soll die Familie das Grundstück erworben haben und plant ein
privates Museum. Mehmet Kalim, der Sohn des inzwischen verstorbenen
Osman Kalim, kann sich gut vorstellen, als Museumsleiter interessierte
Besucher durch das Haus und durch den Garten zu führen. Doch nun kommen
die Ämter ins Spiel, die da ein Wort mitreden wollen, weil das Haus nie
behördlich abgenommen wurde und auch keine Statik nachweisen kann, wie
stabil das Bauwerk noch ist. Stimmen werden laut, die das Haus unter
Denkmalschutz stellen wollen. Die Stiftung Berliner Mauer soll es in
ihren Bestand als weiteres Mahnmal aufnehmen. Mehmet Kalin will das
Grundstück auf keinen Fall an Spekulanten verkaufen, denn dann bekäme er
Probleme mit seinen Kreuzberger Nachbarn. So wird, bis eine Lösung für
die Touristenattraktion gefunden ist, der Sohn des anatolischen
Gastarbeiters weiterhin zwischen Zwiebeln und Knoblauch allen Besuchern
aus nah und fern seine „Familiengeschichte“ zum Baumhaus erzählen. Text
und Fotos: Klaus Tolkmitt